Die meisten waren absolut uninteressant. Dann aber sah ich eine Dame, die wohl ebenfalls noch auf ihr Zimmer warten musste, denn ich bemerkte, wie sie sich suchend nach einem Plätzchen im Foyer umsah. Diese Frau faszinierte mich. Sie hatte eine unglaubliche Ausstrahlung. Meiner Einschätzung nach musste sie so ungefähr 50 bis 55 Jahre alt sein, war sehr elegant gekleidet, und sie trug ihr langes weißes Haar offen. So etwas hatte ich bislang noch nicht gesehen, jedenfalls nicht außerhalb einer Modezeitschrift.
Aber es gefiel mir. Trotz der schneeweissen Haare wirkte sie mit ihrer Frisur richtig jugendlich, und ich konnte meine Blicke nicht von ihr abwenden. So angetan war ich von ihrer Erscheinung. Ich weiß nicht, ob es Absicht oder nur ein Zufall war, jedenfalls steuerte sie direkt auf mich zu und setzte sich in einen Sessel, direkt mir gegenüber. Ein kurzer Blick zum Kellner, und kurze Zeit später hatte auch sie eine Tasse vor sich auf dem Tisch stehen.
Mich auf meine guten Manieren besinnend versuchte ich, sie nicht unentwegt anzustarren. Es gelang mir nicht. Aber jedes Mal, wenn sie meinen Blick erwiderte und mich ansah, schaute ich verstohlen weg, nur um sie nach kurzer Zeit doch wieder zu beobachten.
Sie wirkte sehr anmutig und auch sehr gediegen. Sie trug ein dunkelblaues, auf Taille geschnittenes Kostüm aus einem Material, das mich an ein Gemisch aus Mohair und Seide erinnerte, darunter eine klassische weiße Bluse. Ihre Beine umschmeichelten Nylons und an ihren Füßen prunkten dunkelblaue Pumps mit sehr hohen Absätzen.
Wer nun vielleicht die irrige Ansicht hegt, dass eine Frau jenseits der Fünfzig besser Faltenröcke und Birkenstock tragen sollte, der würde durch ihren Anblick sofort eines Besseren belehrt worden sein. Sie sah einfach klasse aus. Nichts an ihr wirkte unangemessen oder gar lächerlich. Im Gegenteil, diese Frau strahlte Erotik pur aus. Jedoch ohne den Eindruck zu erwecken, sie würde dies auch beabsichtigen. „C’est savoir-vivre“ schoss es mir durch den Kopf.
Um ihr nicht länger das Gefühl zu vermitteln, ich würde sie beobachten, nahm ich mir die Zeitschrift, die ich im Flugzeug bereits zu lesen angefangen hatte und blätterte ein wenig darin herum. Dennoch konnte ich es nicht vermeiden, ab und an von meiner Lektüre aufzublicken und sie dabei ein wenig anzuschauen.
Als sie wieder einmal zu ihrer Tasse griff, bemerkte ich, dass sie am rechten Ringfinger einen Ring trug, der mir wohlbekannt und sehr vertraut war. Erst dachte ich, ich hätte mich geirrt. Aber nachdem ich noch einmal genauer hingeschaut hatte, war klar: Es ist „der Ring“. Mein Herz klopfte ob der unerwarteten Überraschung. Welch ein hübscher Zufall wäre es doch, wenn sie und ich uns als das Gleiche erweisen würden. Dann aber dachte ich mir "Vielleicht kennt sie die Bedeutung dieses Rings ja gar nicht. Sie könnte ihn sich auch einfach so gekauft haben, weil er ihr gefällt.“ Aber amüsant war die Gedankenspielerei schon, sie könne sich als eine „Soumise“ erweisen. Denn, auch ich war eine solche Frau. Nämlich eine, die man auf Deutsch und in gewissen Kreisen eine „Sub“ nennt.
Ich fragte mich, ob ihr mein Ring ebenso aufgefallen war, wie mir der ihre? Am liebsten hätte ich sie einfach direkt darauf angesprochen, aber dazu reichte mein Mut nun doch nicht. Und wie hätte ich das Gespräch auch beginnen sollen? Wie peinlich, wenn ich sie darauf anspräche und sich dann herausstellte, dass sie keine Ahnung hat, wovon die Rede ist? Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen.
Allerdings. Je mehr ich sie beobachtete, umso sicherer meinte ich zu erkennen, dass sie sich wie eine „Soumise“ verhielt. Weder hatte sie in der ganzen Zeit auch nur einmal ihre Beine übereinander geschlagen, noch hatten ihre Hände an einer anderen Stelle geruht als auf ihren Knien, wenn sie sich nicht gerade ihrem Kaffee widmete. Aber natürlich konnte das alles nur reiner Zufall sein und ich nur Opfer des Wunschdenkens, in ihr eine Gleichgesinnte zu sehen. Als sich unsere Blicke wieder einmal kurz begegneten, lächelte sie mir freundlich zu.
Einige Minuten später erregte ein weiterer Gast meine Aufmerksamkeit. Ein distinguierter und sehr groß gewachsener älterer Mann mit grauen Schläfen hatte das Foyer betreten. Er wirkte auf mich, als sei er einem Filmplakat der 40er Jahre entsprungen. Sein ganzes Auftreten verströmte die Aura eines Grand-Seigneurs der alten Schule. „Ein richtiger Herr“ war mein erster Gedanke.
Und genau dieser Mann kam nun schnurstracks auf die Sitzgruppe zu, auf der die Dame und ich es uns bequem gemacht hatten. Dann bemerkte sie ihn und ihr Gesicht begann zu strahlen. Es war nicht zu übersehen, dass die beiden ein Paar sind. Noch bevor er ihren Sessel erreicht hatte, stand sie auf und drehte sich zu ihm hin. Zur Begrüßung beugte er sich ein wenig zu ihr herunter und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund, den sie ebenso zärtlich erwiderte. Anschliessend nahm sie seine Hand, führte sie zu ihrem Mund und berührte mit ihren Lippen erst seinen Handrücken und anschließend seine Fingerspitzen.
Er reichte ihr seinen Arm, sie griff nach ihrer Handtasche und hakte sich bei ihm ein. Im Gehen drehte sie sich kurz zu mir um und meinte lächelnd: „Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag….. und ja, den Ring trage ich nicht rein zufällig, dafür aber schon sehr lange“.
© Text : LiviaO